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Frankreichs Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos

Kernpunkte:

  • Frankreichs ausufernde Budgetdefizite gefährden die langfristige Tragfähigkeit der Staatsschulden. Für eine Gesundung bedarf es höheren Wachstums und niedrigerer Primärdefizite.
  • Ernsthafte Bemühungen zu Reformen und Haushaltskonsolidierung werden zurzeit zwischen instabilen politischen Mehrheiten und politischer Konfrontation zerrieben.
  • Marktteilnehmer preisen zwar höhere Ausfallrisiken in die Renditen französischer Staatsanleihen ein; von Panik ist aber keine Spur.

Zwei Minderheitsregierungen sind in Frankreich seit Sommer 2024 über die vertrackten Haushaltsverhandlungen mit der Opposition gestürzt. Zu Einsparungen im Haushalt konnte sich das Parlament nicht durchringen. Für die Gläubiger drängt sich deshalb eine Frage auf: Wie lange kann Frankreich seine ohnehin hohen Staatsschulden (aktuell etwa 114 % vom Bruttoinlandsprodukt) ohne Reformanstrengungen noch schultern?

Christian Witt
Senior Portfoliomanager
Hamburg

Das Budgetdefizit wird zunehmend zur Belastung

Warum rückt für Investoren ausgerechnet jetzt die Tragfähigkeit der französischen Staatsschulden in den Blick? Schließlich ist es bald 24 Jahre her, dass Frankreich letztmalig einen Primärüberschuss erzielte, also die Steuereinnahmen die Staatsausgaben (vor Schuldendienst) überstiegen.

Zur Beantwortung müssen wir auf die Faktoren blicken, die den Pfad der Staatsverschuldung maßgeblich beeinflussen:

  • Wachstum: Ein hohes Wirtschaftswachstum wirkt sich dämpfend auf den Verschuldungsgrad aus, da mehr Ressourcen zur Schuldendeckung bereitstehen.
  • Zinsbelastung: Steigende Renditen erhöhen graduell die Zinslasten eines Staates, da im Zeitverlauf günstigere Altschulden durch teurere Neuschulden ersetzt werden.
  • Primärsaldo: Sofern die Steuereinnahmen die Staatsausgaben vor Schuldendienst übersteigen (unterschreiten), sinkt (steigt) der Bedarf neue Schulden zu machen.

Mehrere dieser Faktoren haben sich zuletzt als Belastung erwiesen. So hinkt das durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum der letzten zehn Jahre (etwa 1,16 % p.a.) demjenigen der vergangenen drei Dekaden hinterher (etwa 1,50 % p.a.). Zudem hat der Schuldendienst jüngst massiv zugenommen, nachdem die Rendite auf französische Staatsanleihen mit 10-jähriger Laufzeit von -0,3 % per Jahresende 2020 auf zuletzt über 3,5 % rasant anstieg.

Erschwerend kommt hinzu, dass der französische Staat zunehmend über seine Verhältnisse gelebt hat. Das Budgetdefizit ist von 1-2 % des Bruttoinlandsproduktes in den Jahren vor der Pandemie auf 3-4 % danach angeschwollen. Das Wirtschaftswachstum sprang trotzdem kaum an. Mittlerweile ist die Wachstumsrate sogar hinter die Rendite für Neuschulden zurückgefallen. Frankreich kann deshalb nicht mehr ohne weiteres über Wachstum aus den Schulden „herauswachsen“. Eine langfristig untragbare finanzielle Situation. An einer Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftsreformen führt somit kein Weg mehr vorbei.

Frankreich ist politisch gelähmt

Reformen aber benötigen politischen Willen und parlamentarische Mehrheiten. Beide sind in Paris momentan Mangelware.

Zunächst ist da Frankreichs überaus konfrontative politische Kultur. Zwar werden politische Konflikte jenseits des Rheins nicht mehr mit der Guillotine ausgetragen, doch sind Kompromisse bei Politikern und Wählern bis heute verpönt. Die Interessengruppen stehen sich deshalb oft unversöhnlich gegenüber. Man denke nur an die teils gewalttätigen „Gelbwesten“-Proteste mit mehreren Millionen Teilnehmern landesweit.

Die heutige Verfassung trägt dieser konfrontativen politischen Kultur Rechnung, indem sie die Exekutive – also Präsident und Regierung – mit sehr weitreichenden Vollmachten ausstattet. Anders als in den äußerst turbulenten 1930er Jahren, soll Frankreich auch dann handlungsfähig bleiben, wenn sich die Parteien im Parlament gegenseitig blockieren. Der Präsident (und nicht das Parlament) setzt deshalb die Regierung ein und darf Neuwahlen ausrufen. Die Regierung wiederum erhält die Befugnis, in gewissem Umfang Gesetze per Dekret durchzusetzen (vgl. Artikel 49). Dem Parlament kommt nur eine untergeordnete Rolle zu.

Die lange Zeit stabile Verfassung stößt seit einigen Jahren aber an ihre Grenzen. Ursächlich ist die zunehmende Zersplitterung der politischen Landschaft. Spätestens seit den Wahlen 2017, als sich Emmanuel Macrons neu gegründete Mittepartei gegen Marine Le Pens Rechtsaußenpartei durchsetzte, ist die Dominanz der beiden traditionellen politischen Lager, den Sozialisten und Konservativen, Geschichte. In der Parlamentswahl im Sommer 2024 konnte dann keines der vier Lager eine Mehrheit erringen. Die Opposition wurde aber erstmals in der V. Republik stark genug, um die per Dekret durchgesetzten Beschlüsse der Regierung durch Misstrauensvotum abzuwehren. Frankreich ist seither politisch gelähmt.

Ein einfacher Ausweg aus dieser festgefahrenen Situation ist nicht in Sicht. Zwei Regierungen sind bereits in ihrem Bemühen für Wirtschafts- und Sozialreformen gestürzt. Die Opposition fordert indes, alte Reformen sogar wieder zurückzudrehen, beispielsweise eine Absenkung des Renteneintrittsalters von 64 auf 62 Jahre. Somit gibt es kaum Aussichten auf einen Kompromiss und notwendige Wirtschaftsreformen, die das Wachstum wieder beflügeln könnten. Am gegenwärtigen Stillstand wird sich vermutlich auch nichts so schnell ändern, da die nächste Präsidentschaftswahl erst wieder im April 2027 ansteht. Bis dahin stehen sich die Parteien so zerstritten gegenüber wie eh und je, die politischen Ränder profitieren.

Am Rentenmarkt wird Frankreich zunehmend kritisch betrachtet

Wie sehr sich die wirtschaftliche und politische Gemengelage in Frankreich bereits zugespitzt hat, lässt sich auch an der Entwicklung des Rentenmarkts ablesen. Mit Blick auf den Renditeaufschlag von französischen Staatsanleihen mit 10-jähriger Laufzeit über vergleichbare deutsche Staatsanleihen – dem unangefochtenen Proxy für risikolose Anlagen in Europa – lässt sich seit 2021 eine graduelle Ausweitung feststellen. Diese Entwicklung hat sich mit der plötzlichen Ankündigung vorgezogener Neuwahlen im Mai 2024 nochmals deutlich beschleunigt. Der aktuelle Renditeaufschlag handelt auf einem Niveau wie im Jahr 2012. Damals hatte die Eurokrise gerade erst ihren Zenit überschritten.

Renditeaufschlag französischer Staatsanleihen über vergleichbare deutsche Staatsanleihen (jeweils mit 10-jähriger Laufzeit)

Gemessen am Beispiel Italiens scheint die heutige Lage Frankreichs aber wenig furchteinflößend. In der Frühphase der Eurokrise lag der italienische Risikoaufschlag mit rund 1,5 % über deutschen Staatsanleihen fast doppelt so hoch wie der französische Risikoaufschlag heute. Auf dem Höhepunkt der Eurokrise erreichte der italienische Risikoaufschlag über 5 %. Von einem solchen Horrorszenario sind französische Staatsanleihen noch ein großes Stück entfernt. Frankreich wird von den Investoren kritisch beäugt; von Panik aber keine Spur.

Renditeaufschlag italienischer Staatsanleihen über vergleichbare deutsche Staatsanleihen (jeweils mit 10-jähriger Laufzeit)

Frankreichs Lage ist ernst aber nicht aussichtslos

Die Tragfähigkeit ist in den vergangenen Monaten zurecht infrage gestellt worden. Zum einen sind die Staatsanleiherenditen über die vergangenen Jahre rasant angestiegen, zum anderen hat sich das Wirtschaftswachstum abgeflacht. Mittlerweile ist die Wachstumsrate sogar hinter die Rendite für Neuschulden zurückgefallen. Frankreich kann deshalb nicht mehr ohne weiteres über Wachstum aus den Schulden „herauswachsen“. Eine langfristig untragbare finanzielle Situation. An einer Haushaltskonsolidierung und Wirtschaftsreformen führt kein Weg mehr vorbei.

Der notwendige politische Wille für Wirtschaftsreformen und Haushaltskonsolidierung ist momentan Mangelware. Denn ernsthafte Bemühungen zu Reformen und Haushaltskonsolidierung werden zwischen instabilen politischen Mehrheiten und politischer Konfrontation zerrieben. Frankreich scheint bis zur nächsten Präsidentschaftswahl im April 2027 politisch gelähmt zu sein.

Investoren verlangen von der Regierung in Paris deshalb einen höheren Risikoaufschlag über vergleichbare deutsche Staatsanleihen. Von Panik am Staatsanleihemarkt kann dennoch keine Rede sein. Ansonsten sollten die Risikoaufschläge um ein Vielfaches höher liegen wie das Beispiel Italiens zeigt. Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos.

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